Keine automatische dynamische Fortgeltung von Kollektivverträgen beim Betriebsübergang

Okt 11, 2013   //   von tkorn   //   Arbeitsrecht

„Art. 3 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12.03.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, vorzusehen, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs verhandelte und abgeschlossene Kollektivverträge verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über diese nach dem Übergang abgeschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen.“

EuGH, Urteil vom 18.07.2013 – Rs. C-426/11 („Alemo-Herron“) – in: BeckRS 2013, 81519

Sachverhalt:

Einer der Bezirksräte Londons („Lewisham“) übertrug eine seiner Abteilungen auf ein privates Unternehmen, das den Betrieb nach einiger Zeit weiterveräußerte. In den Arbeitsverträgen hieß es sinngemäß: „Während der Dauer Ihres Arbeitsverhältnisses mit Lewisham richten sich die Arbeitsbedingungen nach den vom NJC (Anm. d. Verf.: Tarifverhandlungsorgan für den kommunalen Dienst) periodisch ausgehandelten Tarifverträgen.“ Die privaten Unternehmen waren nicht am NJC beteiligt und konnten daher auf die periodisch von diesem ausgehandelten Tarifverträge keinen Einfluss nehmen. Das private Unternehmen vertrat deshalb die Auffassung, nicht durch die dynamische Bezugnahmeklausel an die nach dem Betriebsübergang erfolgten Tariferhöhungen gebunden werden zu können. Es weigerte sich daraufhin, die periodische Tariferhöhung an seine Arbeitnehmer weiterzugeben. Die Arbeitnehmer klagten hiergegen, das zur Entscheidung berufene englische Gericht legte den Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Rechtliche Würdigung des EuGH:

Streitgegenständlich war in dem Verfahren vor dem EuGH die Frage, ob ein Betriebserwerber durch eine dynamische Tarifverweisungsklausel in den Arbeitsverträgen der übernommenen Arbeitnehmer an Tarifänderungen gebunden werden kann, die in der Zeit nach dem Betriebsübergang vereinbart werden, ohne dass er darauf Einfluss nehmen kann.

Der EuGH hat diese Frage mit folgender Begründung verneint:

Die Betriebsübergangsrichtlinie soll einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und den Interessen der Betriebserwerber herstellen.

  1. Der Erwerber eines Unternehmens muss in der Lage sein, die für die Fortsetzung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen.
  2. Ist es dem Erwerber verwehrt, die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer durch Mitwirkung im betreffenden Tarifverhandlungsorgan auszuhandeln, wird der Wesensgehalt seines Rechts auf negative Vereinigungsfreiheit und seines Rechts auf unternehmerische Freiheit beeinträchtigt.
  3. Wenn der Erwerber nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über die nach dem Betriebsübergang geschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen, sind die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs ausgehandelte und abgeschlossene Kollektivverträge verweisen, nicht gegenüber dem Erwerber durchsetzbar.

Im Ergebnis haben die Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Weitergabe der nach dem Betriebsübergang erfolgten Tariferhöhungen. Ihre (bisher dynamischen) Bezugnahmeklauseln wirken folglich nur noch statisch in der Fassung zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs fort.

Rechtsfolgen in der Praxis für Arbeitnehmer und Arbeitgeber:

Derzeit ist noch unklar, ob das BAG die EuGH-Entscheidung auf das deutsche Recht überträgt. Es steht aber zu erwarten, dass künftig dynamische Tarifverweisungsklauseln nach einem Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber (wieder) als Gleichstellungsabreden auszulegen sind. Im Ergebnis dürfte das EuGH-Urteil folglich zur Rückkehr zur BAG-Rechtsprechung vor 2005 führen. Der Übernehmer ist dann nach einem Betriebsübergang nicht mehr verpflichtet, Tariferhöhungen weiterzugeben, die von einem Tarifpartner ausgehandelt wurden, dessen Mitglied er nicht ist.

Ute Schmidt, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Maître en Droit