BAG bestätigt hohe Hürden für wirksame krankheitsbedingte Kündigung

Okt 27, 2015   //   von tkorn   //   Arbeitsrecht

Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG:

1. Eine lang andauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in der unmittelbaren Vergangenheit stellt ein gewisses Indiz für die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit in der Zukunft dar. Der Arbeitgeber genügt deshalb seiner Darlegungslast für eine negative Prognose zunächst, wenn er die bisherige Dauer der Erkrankung und die ihm bekannten Krankheitsursachen vorträgt.

2. Bei krankheitsbedingter dauernder Leistungsunfähigkeit ist in aller Regel ohne Weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen auszugehen. Die völlige Ungewissheit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit steht einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit gleich, wenn – ausgehend vom Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung – jedenfalls in den nächsten 24 Monaten mit einer Genesung nicht gerechnet werden kann.

3. Um darzutun, dass die Kündigung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügt und ihm keine milderen Mittel zur Überwindung der krankheitsbedingten Störung des Arbeitsverhältnisses als die Beendigungskündigung offenstanden, muss der Arbeitgeber, der entgegen § 84 II SGB IX kein bEM durchgeführt hat, dessen objektive Nutzlosigkeit darlegen. Hierzu hat er umfassend und detailliert vorzutragen, warum – auch nach gegebenenfalls zumutbaren Umorganisationsmaßnahmen – weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen wären und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können, warum also ein bEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten beziehungsweise der Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

4. Ist dem Arbeitnehmer eine Rente wegen voller Erwerbsminderung im Sinne des § 43 II SGB VI bewilligt worden, belegt dies allein nicht die objektive Nutzlosigkeit eines bEM.

BAG, Urteil vom 13.05.2015 – Az.: 2 AZR 565/14 – in: NZA 2015, 1249

Sachverhalt:

Der seit 2007 als Busfahrer beschäftigte Kläger war seit 28.11.2010 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Am 26.06.2012 wurde ihm rückwirkend zum 01.06.2011 eine zunächst bis 30.06.2014 befristete Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit bewilligt. Die Beklagte kündigte daraufhin im Juli 2012 das Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht aus personenbedingten Gründen. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) hatte sie zuvor nicht durchgeführt. ArbG und LAG wiesen die Kündigungsschutzklage ab.

Entscheidung:

Der Kläger war mit seiner Revision erfolgreich. Das LAG habe zwar zutreffend eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit des Klägers angenommen. Die lange Arbeitsunfähigkeit in der Vergangenheit begründe eine entsprechende Indizwirkung, die der Kläger nicht entkräften konnte. Allerdings sei die Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen nicht ausreichend dargetan. Diese sei indiziert, wenn eine dauernde Leistungsunfähigkeit bestünde oder jedenfalls in den nächsten 24 Monaten nicht mit einer Genesung zu rechnen sei. Vorliegend habe das LAG aber nur auf die verbleibende Dauer des Rentenbescheids und damit lediglich auf 23 Monate abgestellt. Schließlich habe die Vorinstanz zu Unrecht das Fehlen milderer Mittel angenommen, obwohl die Beklagte pflichtwidrig kein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) durchgeführt habe. Daher treffe diese eine erhöhte Darlegungs- und Beweislast, dass keine alternative leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen, der sie nicht genügt habe, da auch das Vorliegen eines Rentenbescheids das bEM nicht entbehrlich mache.

Rechtsfolgen in der Praxis für Arbeitnehmer und Arbeitgeber:

Das BAG bestätigt erneut die strengen Anforderungen der Rechtsprechung an krankheitsbedingte Kündigungen. Arbeitgeber müssen alle drei Stufen der sozialen Rechtfertigung (Negativprognose, Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, Verhältnismäßigkeit inkl. bEM) darlegen und ggf. beweisen. Die Indizwirkungen zur Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast werden von der Rechtsprechung eng auslegt. Das zeigt sich insbesondere darin, dass das BAG als Prognosezeitraum mindestens 2 Jahre fordert und den hier vorliegenden Zeitraum von 23 Monaten als zu kurz ablehnt. Auch verdeutlicht die Entscheidung den faktisch nahezu zwingenden Charakter des bEM. Das BAG bleibt zwar dabei, dass das bEM keine formale Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung darstellen soll. Gleichzeitig führt dessen Fehlen aber dazu, dass an den Arbeitgeber immens hohe Darlegungsanforderungen unter Einbeziehung der Erfolglosigkeit hypothetischer alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten gestellt werden. Konkrete Vorgaben zum inhaltlichen Ablauf des bEM macht die Rechtsprechung indes weiterhin nicht, so dass hier Gestaltungsspielraum verbleibt. Stets empfehlenswert ist aber die Dokumentation der Einladung zum bEM einschließlich Hinweis auf dessen Ziele nebst Zugangsnachweis beim Arbeitnehmer. Zudem zeigt eine aktuelle Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein vom 03.06.2015 – Az. 6 Sa 396/14 – dass der Arbeitgeber selbst dann, wenn der Arbeitnehmer monatelang nicht auf ein Angebot zur Durchführung des bEM reagiert, nicht von der Durchführung des bEM befreit ist. Er kann nur dann von der Durchführung des bEM absehen, wenn der Arbeitnehmer das bEM nach ausreichender Belehrung ausdrücklich abgelehnt hat und dies vom Arbeitgeber dokumentiert worden ist.

Dr. Ute Schmidt, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Maître en Droit