Pflicht zur Arbeitszeiterfassung

Sep 20, 2022   //   von tkorn   //   Arbeitsrecht

Mit einer neuen Entscheidung vom 13.09.2022 hat das Bundesarbeitsgericht aufgrund europäischer Richtlinien eine gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung festgestellt. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts betrifft an sich die betriebliche Mitbestimmung und ist etwas schwer verständlich. Bisher liegen lediglich die Pressemitteilung und nicht die vollständigen Entscheidungsgründe vor:

 

„Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Aufgrund dieser gesetzlichen Pflicht kann der Betriebsrat die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG besteht nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist.

(…) Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG* ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.“

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Beschluss vom 27. Juli 2021 – 7 TaBV 79/20 –

Das Bundesarbeitsgericht hat hiermit die Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88 vom 14.5.2019 – C-55/18 (Federación de Servicios de Comisiones Obreras [CCOO] / Deutsche Bank SAE) umgesetzt, in welchen der EuGH ausführte:

Insoweit ergibt sich die Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, aus der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedstaaten und der Arbeitgeber nach Art. 4 I und Art. 6 I der RL 89/391, eine Organisation und die erforderlichen Mittel zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer bereitzustellen. (…) Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasst die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist.

Dem ist das Bundesarbeitsgericht nun mit drei Jahren Verzögerung gefolgt. Als gesetzliche Auslegungsnorm hat das Bundesarbeitsgericht interessanterweise § 3 II Nr. 1 ArbSchG genommen, welche für sich betrachtet überhaupt nicht zur Arbeitszeiterfassung sagt:

3 Grundpflichten des Arbeitgebers

(1) 1Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. 2Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. 3Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.

(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten

1.für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie (…)

Da das Bundesarbeitsgericht hier eine gesetzliche Norm als Grundlage genommen hat, ist als weitere Konsequenz nach § 87 Abs. 1, 77 BetrVG die betriebliche Mitbestimmung über die Einführung an sich gesperrt, da der Arbeitgeber sowieso nach den gesetzlichen Vorgaben hierzu verpflichtet ist.

Wie das dann geschieht und welches Erfassungssystem den Anforderungen des EuGH entspricht, wurde noch nicht geklärt. Jedenfalls ist es keine Option mehr, keinerlei Erfassung vorzunehmen und eine reine, nicht dokumentierte Vertrauensarbeitszeit zu praktizieren. Für sich gesehen ist § 3 Abs. 2 Nr. 1ArbSchG zwar sanktionsfrei. In der Vergangenheit lagen die rechtlichen Probleme und Konflikte im wesentlichen bei individualrechtlichen Streitigkeiten zu Überstunden, die häufig im Rahmen einer Kündigung thematisiert wurden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden im Rahmen von Prüfungen zukünftig aber auch Sozialversicherungsträger sich die Arbeitszeiterfassungen vorlegen lassen. Sollten diese nicht existieren, besteht die Möglichkeit, dass Arbeitszeiten geschätzt bzw. nicht dokumentierte Pausen als Arbeitszeit gewertet und nachträglich (mindestens 4 Jahre rückwirkend!)  verbeitragt werden. Hierdurch können sehr hohe Forderungen entstehen.

Mittelbar hat der Gesetzgeber die Arbeitszeiterfassung auch durch die Änderung im Nachweisgesetz mit wirtschaftlichen Folgen versehen, da nunmehr der Arbeitsvertrag Regelungen zu Überstunden und deren Bezahlung enthalten soll. Sobald die Zeit genau erfasst und dokumentiert wird, entsteht hiermit auch ein direkt wirtschaftlich messbarer Anspruch. Dieser wäre dann auch zum Jahresende (analog Urlaubsguthaben) als Rückstellung in der Bilanz zu berücksichtigen. Um einen Auszahlungsanspruch zu vermeiden, sollte hier zumindest ein Arbeitszeitkonto eingeführt bzw. vertraglich vereinbart werden.

Rechtsanwalt Dr. Thilo H. Korn LL.M.
Partner
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Insolvenzrecht
Master of Laws (University of Sydney)